Es war eine bewegende Gedenkveranstaltung zum 75. Jahrestag des Nazi-Pogroms, darin waren sich die vielen Teilnehmer einig. Noch einiger aber waren sie sich im Fazit: So etwas darf nie wieder passieren, deshalb müssen wir alles dafür tun, dass die Nazi-Greueltaten des Pogrom und der damit beginnenden Judenverfolgung im Gedächtnis bleiben. Der Vorsitzende des Heimat und Geschichtsvereins Wolfhagen, Richard Mangold, brachte es auf den Punkt: „Die Erinnerung darf niemals verblassen, es ist unsere tiefste innere Überzeugung, die schrecklichen Ereignisse aufzuarbeiten - das sind wir auch den Wolfhager Opfern schuldig“.
Dazu hilft es ungemein, dass jedes Jahr auch Schülerinnen und Schüler der WFS die Veranstaltung mitgestalten. Wolf-Arne Pillardy vom Vorbereitungskreis 9.November sprach in diesem Zusammenhang von der Generation der Enkel und Urenkel, die ja eigentlich keinen direkten Zusammenhang damit mehr haben. Umso wichtiger ist die Erinnerung anhand Schilderungen und Berichten von Zeitzeugen aufrecht zu erhalten.
Dies haben die Schülerinnen und Schüler in Form einer modernen Talkshow im Interview-Stil versucht, in deren Mittelpunkt sie die Tatsachenschilderung einer Wolfhagerin stellten und damit die vielen Besucher sehr bewegten. Zum Abschluss verlasen die Schüler dann noch die Chronolgie der Ereignisse in Wolfhagen. Aufgrund dieser tollen Leistung, die unter Anleitung von Herrn von der Straten vorbereitet wurde, wollen wir dies hier am Ende des Berichts veröffentlichen.
Bürgermeister Schaake übermittelte herzliche Grüße von den beiden Ehrenbürgern Wolfhagen, den überlebenden jüdischen Mitbürgern Lutz Kann und Ralph Moellerich und bekräftigte die Hoffnung, mit den Gedenkveranstaltungen, die inzwischen schon zur Tradition geworden seien, eine Aussöhnung zu schaffen. Er berichtete weiter, dass ihm Lutz Kann voller Stolz mitteilte, dass er ein schriftliches Lob vom Regierenden Bürgermeister Berlins, Klaus Wowereit, für die ihm verliehene Ehrenbürgerwürde in Wolfhagen erhalten habe und "das die Stadt Berlin stolz sei, einen solchen Mitbürger zu haben".
"Mit der Ehrenbürgerschaft, beschlossen von den heutigen Stadtverordneten, haben wir im hier und heute den Überlebenden des Holocaust ein Stück Würde wiedergegeben", sagte Schaake.
Auch in diesem Jahr wurde wieder eine Gedenktafel an einem Haus enthüllt, welches früher im Besitz jüdischer Mitbürger war. Für die Bereitschaft dazu dankten alle Teilnehmer der Familie Biermann ganz herzlich.
Hier nun die szenische Darstellung der Schülerinnen und Schüler:
Moderatorin:
Frau St., wie erlebten Sie als Nichtjüdin die Zeit des Nationalsozialismus‘ in Wolfhagen?“
Frau St.:
„An die Nazi-Zeit kann ich mich noch sehr gut erinnern. Ich lebe heute zwar in den Vereinigten Staaten, wohnte aber als gebürtige Wolfhagerin bis in die ‘50er Jahre hier:
Ab 1932 habe ich eine Ausbildung im Manufakturwarengeschäft der jüdischen Familie Klebe in der Schützeberger Straße gemacht. Zu meinen Arbeitgebern hatte ich ein gutes Verhältnis.
Samuel Klebe, der Besitzer, hatte im Ersten Weltkrieg für seine Tapferkeit das Eiserne Kreuz erster Klasse bekommen und dachte daher, dass ihm unter den Nazis nichts passieren würde.
Seit ‘33 standen jedoch SA-Leute vor den jüdischen Läden und schrieben zur Einschüchterung die Namen der Kunden auf. Deshalb kauften auch immer weniger Wolfhager bei uns ein. Hinzu kam, dass viele säumige Kunden, die ich als Lehrmädchen aufsuchen musste, ihre Schulden nicht mehr bezahlten und häufig sogar aggressiv wurden. So kam es, dass Familie Klebe im Frühsommer ‘34 ihr Textilgeschäft aufgeben musste und es Nichtjuden[1] übernahmen. Von letzteren wurde ich auch weiter beschäftigt.“
Moderatorin:
„Wissen Sie, was anschließend aus Klebes wurde?“
Frau St.:
„Ja!
Herr Klebe, seine Frau Martha und ihre gemeinsame Tochter Ursula zogen zunächst zu Verwandten nach Köln. Später konnten sie über Kenia nach Israel fliehen und so dem Holocaust entgehen.“
Moderatorin:
„Wie stellte sich überhaupt die Situation für die Juden in Wolfhagen dar, nachdem die Nazis am 30. Januar 1933 die Macht übertragen bekommen hatten?“
Frau St.:
„Zu der Zeit, als Klebes weggingen, erniedrige man bereits systematisch die jüdischen Mitbürger:
So wurde beispielsweise Max Rosenstein von Wolfhager SA-Leuten auf einen Ochsen gesetzt und durch die Stadt geführt, nur weil er mit einer Christin befreundet war. - Das war in den Augen der Antisemiten ‚Rassenschande‘.
Der Eisenwarenhändler Albert Katzenstein gab sein Geschäft auf, nachdem eine größere Menschenmenge ihn und einen nichtjüdischen Kunden im November ‘35 massiv bedroht hatte.
Die meisten Wolfhager wussten auch, dass in den Zellen der ‚Alten Wache‘ am Marktplatz unter anderem Sally Giesberg von der SA misshandelt worden war.
– In einer Kleinstadt spricht sich sowas herum, zumal ja viele selbst Mitglied in der SA waren.
Aus all‘ diesen Gründen verließ die Mehrzahl der 65 Juden, die 1933 hier noch gemeldet waren, bis ‘38 Wolfhagen und zog zumeist in größere deutsche Städte, wo sie sich sicherer fühlte. Einige wanderten sogar ins Ausland ab. Im Sommer ‘39 musste dann mit Moses Block der letzte jüdische Einwohner die Stadt verlassen!
Moderatorin:
„Das ist ja wirklich bestürzend!
Kommen wir in diesem Zusammenhang bitte auf die Geschehnisse unmittelbar am 9. November 1938 zu sprechen:
Wie haben Sie die Pogrom-Nacht damals erlebt?“
Frau St.:
„Bereits einige Tage vorher gab es Gerüchte, dass die Synagoge in Brand gesetzt werden sollte.
Am 9. November begannen dann tatsächlich die Ausschreitungen in Wolfhagen. Nachmittags wurden Wohn- und Geschäftshäuser von jüdischen Familien geplündert, darunter das ehemalige Haus der Klebes. Man warf brennende Stoffballen auf die Straße und versuchte sogar, einige Gebäude anzuzünden. Gegen 19 Uhr war schließlich ein riesiger Feuerball am Himmel zu sehen und ich wusste sofort, dass nun die Synagoge brennt.
Im Laufe des Tages wurden sämtliche noch in der Stadt lebenden Juden im Gerichtsgebäude[2] in sogenannte ‚Schutzhaft‘ genommen, wie die Nazis sagten. Tags drauf sind die jüdischen Männer nach Kassel gebracht und anschließend für Wochen ins KZ Buchenwald deportiert worden. Da Frauen und Kinder noch bis zum 12. November im Amtsgericht ausharren mussten, erlebte Anneliese Kann ihren fünfzehnten Geburtstag dort. - Nach ihrer Entlassung haben viele jüdische Familien dann die Stadt für immer verlassen.“
[1] Familie Reinicke.
[2] Amtsgericht in der Burgstraße.
Und hier nun die Chronologie des Tages in Wolfhagen:
„Chronologie der Ereignisse vom 9. November 1938 in Wolfhagen frei nach den Erinnerungen von Frau St.:
Gegen 10 Uhr:
Vier bis fünf Lastwagen mit SS-Männern im sogenannten ‚Räuberzivil‘ werden in Wolfhagen gesichtet.
Gegen 10.30 Uhr:
Nach einem erfolglosen Versuch, in die Synagoge in der Mittelstraße einzubrechen, wendet sich das Rollkommando in Richtung der jüdischen Schule in der benachbarten Gerichtsstraße. Der Mob, dem sich zwischenzeitlich stadtbekannte NSDAP-Mitglieder angeschlossen haben, plündert und zerstört unter Führung des Leiters der bezirklichen Krankenversicherung[1] das Inventar und wirft Bücher auf die Straße. Auf dem Höhepunkt wird ein Sprengsatz gezündet, der einen Brand auslöst.
- Das Gebäude kann jedoch gerettet werden.
Gegen 11.30 Uhr:
In der Mittelstraße wird das Haus der Familie des Manufakturwarenhändlers Salomon Kron gestürmt, und es fällt Raub und Vandalismus zum Opfer. Auch hier wird ein Brandsatz geworfen, das Feuer jedoch wenig später von Helfern gelöscht.
Gegen 12 Uhr:
Man attackiert nun das Wohn- und Geschäftshaus der Familie des Schuhmachers Siegmund Kann in der Mittelstraße. Hier werden Fenster, Türen und das Mobiliar verwüstet, Dokumente vernichtet und Vieles gestohlen.
Gegen 14 Uhr:
Auch das Haus in der Schützeberger Straße, in dem zuvor die jüdische Familie Klebe lebte und das jetzt von einer nichtjüdischen Familie bewohnt wird, wird besetzt. Gegenstände der Klebes, die sich noch auf dem Dachboden befinden, werden auf die Straße geworfen.
Im Laufe des Tages werden weitere jüdische Wohn- und Geschäftshäuser überfallen. So stürmt beispielsweise der NSDAP-Kreisleiter[2] höchstpersönlich die sogenannte Steinkammer der Familie von Josef Möllerich in der Schützeberger Straße.
Gegen 15 Uhr:
Das Haus der Winterbergs in der Mittelstraße wird mit einer Brechstange geöffnet. Die Menge drängt hinein, raubt und demoliert.
Gegen 18 Uhr:
Der Exzess erreicht seinen Höhepunkt, als die Synagoge und das Haus von Salomon und Hilda Winterberg in Brand gesetzt werden. Das Petroleum hierfür wird von einem Einwohner Wolfhagens zur Verfügung gestellt. Das Feuer in der Synagoge wird nicht gelöscht, nur die umliegenden Häuser vor einem Ausbreiten der Flammen geschützt. Das Winterbergsche Haus, ein Fachwerkbau, brennt lichterloh. Auch hier erachtet die Feuerwehr ein Eingreifen nicht für notwendig bzw. wird daran gehindert.
Später wird die Synagoge abgerissen und ein Geschäft[3] auf dem Grundstück errichtet.
Am Ende des Tages finden sich auf den Straßen Wolfhagens private Papiere, Kleidung, Hausrat und Wertgegenstände von Julius und Berthold Block, Johanna Goldschmidt, Hermann Hiersteiner und den vielen anderen ehemaligen jüdischen Nachbarn.
Schnitt –
31. März 1945:
Amerikanische und belgische Soldaten marschieren in Wolfhagen ein und beenden auch hier den Wahn von einem tausendjährigen Reich, bei dessen Ende mindestens 51 tote jüdische Mitbürger Wolfhagens zu beklagen sind.“
[1] Hr. Zorn.
[2] Hr. Töfflinger.
[3] Metzgerei Waßmuth.